Tilmann Knopf: Kap. 5: Problematische Elemente von Fantasy-Rollenspielen

5. Problematische Elemente von Fantasy-Rollenspielen

Rollenspiele wurden und werden in der Öffentlichkeit immer wieder angegriffen. Behauptet werden folgende schwerwiegende Vorwürfe:32

Ich möchte im folgenden die wichtigsten Kritikpunkte näher untersuchen.33 Einen Schwerpunkt wird dabei der Vorwurf des Okkultismus bilden, der sicherlich auch theologisch am interessantesten ist. Grundsätzlich lassen sich – was Kritiker und Verteidiger der Rollenspiele oft übersehen – keine für alle Spiele gültigen Aussagen machen – dazu sind die Spiele zu verschieden. Worin die Spiele sich jeweils unterscheiden, werde ich im folgenden in der hier gebotenen Verkürzung darstellen – eigentlich wäre zu jedem Rollenspielsystem eine eigene Untersuchung zu diesen Punkten notwendig.


5.1. Weltbilder von Fantasy-Rollenspielen

Bevor ich einzelne Vorwürfe untersuche, ist es notwendig, zunächst noch kurz über den Hintergrund nachzudenken, der bei der Bearbeitung der einzelnen Fragen zu berücksichtigen ist. Das Unverständnis zwischen Kritikern und Verteidigern der Fantasy-Rollenspiele rührt nämlich m.E. zu einem nicht unbeträchtlichen Teil daher, daß beide Seiten von Voraussetzungen ausgehen, die sich stark voneinander unterscheiden. Während die Kritiker die in den Spielen verwendeten Elemente mit “irdischen” Augen betrachten, verwenden die Spieler zumeist die Perspektive der jeweiligen Fantasy-Welt.

Fantasy-Welten haben aber in den meisten Fällen ein Weltbild, das sich vom unsrigen wesentlich unterscheidet.

Die wichtigste Unterscheidung ist: Fantasy-Welten sind Kunstwelten, die völlig der Verfügungsmacht des Spielleiters unterliegen. So wie dieser entscheidet, handeln nicht nur die Schurken, mit denen sich die Spielercharaktere auseinandersetzen, sondern auch die Götter dieser Welt, ja die Welt selbst muß vom Spielleiter veränderbar sein. Daher ist eine Kritik wie „Zu den Schutzgöttern gehören[...], wohingegen von dem allein wahren Gott, Jehova, nirgens die Rede ist34 ein besonders krasses Beispiel für ein Mißverständnis der Kritiker, die Fantasy-Spiele nur oberflächlich betrachten. M.E. ist genau das Gegenteil dieser Kritik zutreffend: Je näher sich Fantasy-Rollenspiele an unsere reale Welt und unserer realen Weltsicht annähern, um so schwieriger wird es für die Spielerinnen und Spieler, reale Welt und Spielwelt zu trennen: Der christliche Gott selbst als Marionette des Spielleiters wäre tatsächlich problematisch.35


Welche Weltbilder haben nun diese Kunstwelten?

Kampf zwischen hellem und
dunklem Magier (Warhammer)

Zwei Grundtypen scheinen mir immer wiederzukehren, obwohl ich selbstverständlich nur von einer relativ schmalen – aber vermutlich doch repräsentativen – Materialbasis ausgehe. Diese beiden Grundtypen unterscheiden dann auch meine Definitionen von “klassischer” bzw. “dark” Fantasy.

Klassische Fantasy-Welten sind im allgemeinen dualistisch aufgebaut. Den Kräften des Guten – repräsentiert durch Ordnung, “Zivilisation” Götter, Priester, “weiße” Magier, Helden etc. – stehen die Mächte des Bösen entgegen – repräsentiert durch Chaos, Barbaren, Dämonen, Dämonenanbeter, “schwarze” Magier, Schurken, Monster etc. Zwischen “Gut” und “Böse” gibt es meist keine Vermittlung, oder wenn, dann nur auf unterer Ebene.36 Die Spieler stehen in klassischen Fantasy-Welten meist auf der Seite des “Guten”, und damit existiert eine einfache, aber klare Ethik, die im wesentlichen unseren ethischen Vorstellungen entspricht: “Gutes” ist zu tun und “Böses” ist zu unterlassen bzw. zu verhindern.

Höllischer Heerführer
(angeli)

In “Dark Fantasy”-Welten verschwimmt zumeist der Unterschied von “Gut” und “Böse”. Entweder ist die Weltordnung – aus welchen Gründen immer – bereits zerstört bzw. in Zerstörung begriffen (etwa bei KULT), oder die bestehende Ordnung ist selbst böse (wie in den Cyberpunk-Welten, wo eine kleine Schicht Privilegierter die Masse unterdrückt) oder die Spieler verkörpern selbst “dunkle” Charaktere. Daraus ergibt sich, daß die Ethik von “Dark Fantasy”-Spielen meist entweder verschwommen oder an anderen als gängigen Werten orientiert ist. So ist etwa in einem Spiel, in dem die SpielerInnen Vampire, Werwölfe oder “Höllische Heerführer” spielen, eine andere Vorstellung von “Gut” und “Böse” zu erwarten als in einer klassischen Fantasy-Welt – bis hin zur völligen Umkehrung gängiger Wertvorstellungen.

Auffallend ist, daß “Dark Fantasy”-Spiele, im Unterschied zu klassischer dualistischer Fantasy, häufig auf dem Hintergrund einer fiktiven Zukunft – etwa KULT und “Shadowrun” – oder gar in der Gegenwart der Erde – “Nephilim” und die “White Wolf”-Serien – spielen.

Meist wird in diesen Spielen die irdische Geschichte und Realität unter Zuhilfenahme einer okkulten Realität, die sich hinter der irdischen angeblich verbirgt, uminterpretiert, so in der “Geschichte der Hierarchie der Toten” aus dem Rollenspiel “Wraith – The Oblivion” der Firma White Wolf:

„The history of the Hierarchy is a chronicle that mirrors the history of the Skinlands [der Welt der Lebenden, Anm.d.Vf.], but where the world of the living focuses on the evolution of human life, the world beyond the Shroud concerns itself with the evolution of human death.37

Zwar weisen die Autoren meist knapp darauf hin, daß es sich bei ihren Spielen um Fiktion handelt, andererseits spielen sie aber bewußt mit dem Reiz einer solchen okkulten Realität.

Ein Extrembeispiel hierfür, allerdings kein Einzelfall mehr, ist das 1994 von der Firma “CHAOSIUM INC.” publizierte Rollenspiel “Nephilim”,38 in dem die Spieler Geistwesen (“Nephilim”) spielen, die durch die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch immer wieder in Menschen inkarnieren, um die “wirkliche”, okkulte Geschichte zu beeinflussen und nach Erlösung zu streben: „Now, in the 1990’s, the Nephilim have woken up en masse, though they do not yet know why“.39 Das Jahr 2000 markiert eine Krise, daher inkarnieren im Spiel “derzeit” viele dieser Geistwesen. Zwar ist auf der ersten Seite des Regelbuchs zu lesen: “This Game Is Not Real”, andererseits ist die Rückseite aber überschrieben: „Science is an Illusion, History is a Lie“ und in der Einleitung wird versprochen:

„We invite you to cross the threshold of fantasy in order to discover the hidden side of our everday universe. Here you will discover the underlying reality which has been hidden for millennia, you will see behind the scenes and reveal the canvas under the paint.40

In der okkultistischen Geschichtsdarstellung dieser Spiele werden reale historische Ereignisse und Gruppierungen verwendet – von Echnaton bis Jack the Ripper, von Stonehenge bis zu den Tempelrittern findet alles eine neue Bedeutung in der okkulten Geschichte.

Die Autoren dieses Rollenspiels verlassen also explizit den Bereich der Fantasy, versprechen sogar schon im Titel “Occult Roleplaying”. Die Welt solcher Spiele ist nicht eine Fantasy-Welt, sondern tatsächlich unsere real existierende Welt, bereichert um okkulte Hintergründe. Auf die Fragen und Probleme, die sich aus der religiösen Dimension von Rollenspielen mit solchen okkultistischen Weltbildern ergeben, werde ich unter 5.3. detailliert eingehen.

In einer Thematisierung der Rollenspiele etwa im Religionsunterricht wird in jedem Fall grundlegend auf das Thema “Weltbild” einzugehen sein, wobei folgende Fragestellungen besonders zu berücksichtigen sind:

  1. Spielwelt und reale Welt
  2. Dualistische Weltbilder
  3. Weltbild und Ethik
  4. Okkultistische Weltbilder

5.2. Gewalt im Rollenspiel
Die Bilder zu diesem Kapitel zeigen Waffen und Gewaltdarstellungen aus verschiedenen Rollenspielen (DSA, Warhammer, KULT, angeli).

„Dungeons & Dragons ist zwar ein Spiel, das die Zusammenarbeit fördert, aber diese Kooperation umfaßt auch die Zusammenarbeit bei Gewalt, geplantem Mord und Krieg. Es stimuliert zwar schöpferische Phantasien, doch diese Phantasien basieren auf Totschlag und Schrecken [...] Wenige werden zu Mördern, doch viele werden aggressiver. Wenn ein Kinderspiel nachweislich zu zahlreichen Todesfällen führt, dann darf nicht durch Anzeigen und in Werbespots dafür geworben werden.“

So schreibt Pat Pulling,41 eine der engagiertesten Gegnerinnen des Fantasy-Rollenspiels, die den Selbstmord ihres Sohnes u.a. auf das Spielen des genannten Fantasy-Rollenspiels zurückführt.

Ihre Kritik am Rollenspiel möge hier für viele andere stehen, von „gravierenden Bewußtseinsveränderungen in Richtung auf Gewaltbereitschaft und Zwang zu Gewalttaten42 ist die Rede, es wird behauptet „in anderen Worten ausgedrückt heißt Abenteuer bei solchen Spielen immer, jemanden oder etwas zu töten“.43

Mir ist tatsächlich kein Rollenspielsystem bekannt, das ohne Gewalt auskommt. In jedem mir bekannten Rollenspielsystem gibt es Kampfregeln. Gewalt ist in allen gängigen Rollenspielen auch ein Mittel zur Lösung von Problemen – allerdings in manchen Rollenspielsystemen nicht das einzige und nicht das beste. Es gibt stark gewaltorientierte Rollenspiele wie die meisten “Dark Fantasy”-Spiele, genannt seien “Cyberpunk”, “KULT” und “Shadowrun” und es gibt Rollenspiele, in denen Gewalt eine eher untergeordnete Rolle spielt. Daß Gewalt in den Fantasy-Rollenspielwelten unverzichtbar ist, ergibt sich meist schon aus dem Weltbild44 – das Böse schlechthin läßt sich nicht bekehren, sondern muß vernichtet werden. Diese Art der Stellung zur Gewalt teilen Rollenspiele allerdings nicht nur mit Kino, Film und Fernsehen von James Bond bis zu Kinderzeichentrickfilmen sondern auch mit großen Teilen der Weltliteratur vom Alten Testament bis hin zu Grimms Märchen. Ohne Schwerterklirren und funkelnde Rüstungen wäre Fantasy eben nicht Fantasy. Die entscheidende Frage ist also: hat die Gewaltausübung im Fantasy-Spiel Auswirkungen im realen Lebensvollzug der Spieler? Gibt es die behaupteten negativen Auswirkungen auf die Psyche der Spieler?

Diese Fragen lassen sich m.E. weder mit einem klaren Ja noch mit einem klaren Nein entscheiden. Ich möchte an dieser Stelle aber auf einige wichtige Gesichtspunkte hinweisen. Die Diskussion über diese Fragen ist stark emotionalisiert. Differenzierte Stellungnahmen sind kaum auszumachen. Eine Reihe psychologischer Untersuchungen – die allerdings meist an College-Studenten – also älteren Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen durchgeführt wurden – belegen für das in den USA marktführende Rollenspiel “Dungeons & Dragons” keine negativen psychischen Auswirkungen45 und werden demgemäß von Spielern auch gerne für die Unbedenklichkeit der Spiele ins Feld geführt. Die Gegenseite führt demgegenüber Selbstmorde, Morde, Vergewaltigungen etc. auf, die angeblich mit Rollenspielen in Verbindung stehen.46 In der Zeit von 1979 bis 1993 sollen 128 solche Fälle gezählt worden sein. Verglichen mit dem Mittelwert der Bevölkerung müßten in diesem Zeitraum jedoch alleine über 1000 RollenspielerInnen Selbstmord begangen haben.47 Haben die Verteidiger der Spiele die wissenschaftlichen Untersuchungen und die Statistik auf ihrer Seite, so stützen sich die Gegner auf erschütternde Einzelfälle. Es wird also sowohl von einer globalen Verurteilung als auch von einer pauschalen Unbedenklichkeitserklärung abzusehen sein.

Ein wichtiger Aspekt ist m.E. auch die Frage, welchen Stellenwert Gewalt im jeweiligen Spielsystem hat. Flach/Rummel weisen darauf hin, daß im von ihnen untersuchten Spiel “Das Schwarze Auge” in der Beschreibung der Grundcharaktere dieses Spiels „keine Andeutungen zur Ausübung von Gewalt oder gar Aufforderungen zum gewalttätigen Handeln48 findet. Die Gewalt – so folgern sie – gehe also nicht vom Spiel, sondern vom Spieler aus. Dies ist nur bedingt richtig, Flach/Rummel lassen sowohl die charakterimmanente Gewaltkomponente außer acht – ein “Krieger” oder “Söldner” hat nun einmal ein gewisses Gewaltpotential – als auch die durch die dualistische Spielwelt vorgegebene Tendenz zu und Legitimierung von Gewalt. Dennoch unterscheiden sich “klassische” Fantasy-Spielsysteme hier stark von “Dark Fantasy”-Spielen. Dort ist Gewalttätigkeit oft Programm. In der Beschreibung des Spielercharakters “Straßenkämpfer” des Rollenspieles “KULT” (siehe auch Abbildung links) heißt es etwa:

[...] im letzten Winter gab es in der Umgebung jede Menge Bandenkriege. Wir haben die Bluestones vernichtet und Old Man hat ihr Territorium übernommen. Das waren gute Zeiten. [...]

Persönlichkeit: Cool. Er ist eine tödliche Waffe und das genießt er. Die Welt ist ein rauher und kalter Ort, wo nur die überleben, die noch rauher und kälter als ihre Umgebung sind. So ist das Leben eben.49

Spiele können – wie dieses Zitat zeigt – sowohl von der Spielwelt (“Die Welt ist ein rauher und kalter Ort”) als auch von den angebotenen Grund-Charakteren (“Er ist eine tödliche Waffe und das genießt er.”) her mehr oder weniger gewaltorientiert sein.

Ein weiteres Kriterium ist m.E. die Abstraktionsstufe von Gewalt. Auch Schach ist ein gewalttätiges Spiel, in dem “Bauern geopfert” und “Damen geschlagen” werden. Dennoch verhindert die hohe Abstraktionsstufe den Bezug zur Realität.

Im “Abenteuer Basis Spiel” zum Spiel “Das Schwarze Auge” heißt es im Kapitel “Auf in den Kampf” zum Thema “Simulation eines echten Schwertkampfs”:

„[...] ging es den Kontrahenten dabei [bei mittelalterlichen Kämpfen; Anm.d.Vf.] um ihr echtes und unersetzliches Leben [...] Bei einem solchen Kampf wollen wir aber weder anwesend sein noch ihn in Spielregeln fassen. Wir orientieren uns vielmehr an Ritter- und Mantel- und Degenfilmen, an Romanen und Comics [...]50

Hier wird eine ganz andere Einstellung zu Gewalt im Spiel deutlich als im folgenden Zitat aus der Einleitung zum Kapitel “Kampf” des Rollenspiels KULT:

„Meine Ingram zeigte direkt auf die grauenvolle Erscheinung, und ich verschoß das Magazin der Maschinenpistole. Ich konnte Alains zerfetzten Körper im flackernden Licht über mir sehen, aufgespießt von rostigen Stahlkrallen. Sein Kopf baumelte hin und her, fast ganz vom Körper abgerissen...51

Während etwa in der Regel zum “Schwarzen Auge” explizit Abstand von realistischer Gewalt genommen und die Abstraktion bzw. Spielhaftigkeit betont wird, schwelgen manche Rollenspiele geradezu in der Darstellung brutalster Gewalt. Als Beispiel sei hier auch noch eine Würfeltabelle aus dem Spiel “Magna Veritas” angeführt, einem Spiel, das sich selbst als Parodie versteht. Auch diese Würfeltabelle soll vermutlich “lustig” sein. Dieses “parodistische” Beispiel zeigt m.E. besonders deutlich, wie problematisch der Umgang mit Gewalt in manchen Rollenspielen tatsächlich ist.*



Tod durch Feuer (Flammenwerfer)
(1-3): Das Feuer verbrennt das Gesicht des Opfers bis zur Unkenntlichkeit und bringt sein Gehirn zum Kochen. Ein letzter Schrei vor dem schnellen Tod.
(4-6): Der Körper besteht nur noch aus blutigen Hautfetzen. Die Knochen stehen hervor und sind rußgeschwärzt. Ein unerträglicher Gestank geht von dem Haufen aus.
(7-9): Der Feuerstrahl erfaßt die untere Hälfte des Körpers und reißt sie mit sich fort, wodurch das beklagenswerte Opfer in zwei Teile zerschnitten wird. Der oberen Körperhälfte bleiben noch einige Sekunden, um sich über die tödlichen Folgen der Wunden klar zu werden.
(10-12): Nur das Skelett bleibt noch für einen Moment stehen, bevor es zu einem Knochenhaufen zusammenfällt.
(13+): Alles, was von der Person übrigbleibt, ist ein schwarzer Schatten auf einer verkohlten Wand – sonst nichts, nicht einmal ein Häufchen Asche.



Schließlich ist die konkrete Spielrunde wahrscheinlich der wichtigste Faktor für den Umgang mit der Gewalt im Rollenspiel. Wie stark Gewalt im eigenen Rollenspiel vorkommt und wie damit umgegangen wird ist auch und vor allem Sache der Spieler und in besonderem Maße des Spielleiters – von der Auswahl der Spielwelt bis zum eigenen Rollenspiel. Auch das Alter der Spieler könnte ein wichtiger Faktor sein. Über die Auswirkungen gerade auf jüngere Spieler52 ist m.W. noch zu wenig bekannt.

Wie gewalttätig Rollenspiele sind und ob Rollenspiele die Gewaltbereitschaft im realen Leben erhöhen, läßt sich m.E. nicht pauschal beantworten, sondern hängt wesentlich von den Faktoren Hintergrundwelt, Kampfregeln, Spielercharaktere und konkrete Spielgruppe ab – sicher ist aus diesem Problemkreis keine pauschale Verurteilung von Fantasy-Rollenspielen ableitbar, die Frage der Gewalt wird aber sicher zu thematisieren sein, wenn – etwa im Religionsunterricht – über Rollenspiele gesprochen wird.


5.3. Fantasy-Rollenspiele und Okkultismus

„Satan kann irgend etwas wünschenswert erscheinen lassen und für Spaß und Aufregung sorgen – beispielsweise ein Spiel, das Phantasie und Rollenspiel anregt -, wenn dies jemanden dazu bringt, sich auf ihn einzulassen. Wir sollten uns beständig in der Unterscheidung üben, ‘damit wir nicht vom Satan übervorteilt werden; denn seine Anschläge sind uns nicht unbekannt’ (2. Korinther 2,11).“

Mit diesen Worten warnen die Bibelschullehrer John Weldon und James Bjornstad53 vor dem “Satanswerkzeug” Fantasy-Rollenspiel.


Dämonenbeschwörung
(DSA)

Sind die Vorwürfe der Kritiker, Fantasy Rollenspiele seien „ein komplettes “Wie-man’s-macht”-System, ein grundlegender Einstieg in das Okkulte54 berechtigt, oder gilt: „jedes Rollenspiel ist ein Spiel, und als solches nicht unbedingt ernst zu nehmen55 wie die Verteidiger gerne argumentieren?

Ein Problem der bisherigen Diskussion ist auch in diesem Bereich die emotionsgeladene Atmosphäre der Debatte. Auf der einen Seite stehen vom ersten Blick in ein Spiel entsetzte Eltern, Pädagogen und Theologen, die jedoch meist über eine extrem geringe Sachkenntnis verfügen, was die Spiele angeht. Salopp gesagt: nicht überall, wo ein Pentagramm drauf ist, ist auch Okkultismus drin. Auf der anderen Seite stehen SpielerInnen, die sich in eine Ecke mit Sekten und Ritualmördern gedrängt sehen und solche Angriffe entsprechend heftig zurückweisen. Eine differenzierte Untersuchung der einzelnen “okkultistischen” Elemente der verschiedenen Rollenspiele hat bisher kaum stattgefunden. Vor allem aber wurde – soweit ich sehen kann – bisher überhaupt noch nicht nach dem “warum” gefragt. Warum sind so viele Jugendliche fasziniert von Fantasy-Rollenspielen? Warum sind religiöse, magische und okkultistische Elemente stets ein zentrales Element dieser Spiele? Ich will im folgenden in groben Zügen versuchen, zu den wichtigsten Punkten Stellung zu nehmen.

Zuvor möchte ich aber gerne hierzu noch ein weiteres Ergebnis meiner Umfrage vorstellen. Ich habe die Schüler nach ihrer Erfahrung mit Okkultismus (Tisch rücken, pendeln, Schwarze Messen, Geisterbeschwörungen..) sowie danach gefragt, ob sie an solche Dinge glauben. Bei der Frage nach der Erfahrung mit Okkultismus ist der einzige signifikante Unterschied zwischen Nichtspielern, Fantasy-Spielern und Rollenspielern der, daß die Rollenspieler unverhältnismäßig oft unsicher über ihre Erfahrung waren. Diese Unsicherheit bezieht sich vermutlich auf die Spiele selbst. Auf die Frage “Glaubst du, daß Rollenspiele okkultistisch sind?” antworteten von den 17 Rollenspielern nämlich drei mit “ja”, vier mit “weiß nicht”, neun mit “nein” und ein Spieler machte keine Angabe.

In der Frage, ob sie an solche Dinge glauben, unterscheiden sich Fantasy-Spieler und Rollenspieler – bei der gebotenen Vorsicht wegen der geringen Zahl von Rollenspieler – nicht von der Vergleichsgruppe der Nichtspieler. Insgesamt weisen diese Zahlen darauf hin, daß der Vorwurf, Rollenspiele seien ein wichtiger Einstieg in den Okkultismus, angesichts der hohen Erfahrung mit okkultistischen Praktiken auch bei den Nichtspielern (immerhin ca. 1/4) und der geringen Unterschiede zwischen Spielern und Nichtspielern statistisch kaum zu halten sein dürfte. Allerdings ist damit die Frage nach der okkultistischen Dimension der Rollenspiele noch nicht beantwortet – Rollenspiel ist nicht gleich Rollenspiel,56 bisher sind – zumindest in Salzburg – “Dark Fantasy”-Spiele noch ziemlich unbekannt, und die Kritiker warnen auch vor allem vor den Auswirkungen bei engagierteren Spielern, die in der von mir untersuchten Gruppe nur einen minimalen Prozentsatz stellten.


5.3.1. Magie im Rollenspiel

„In Earthdawn gehört die Magie zum alltäglichen Leben. Sie wird in Dörfern und Orten zur Straßenbeleuchtung [...] eingesetzt. [...] In diesem Kapitel wird beschrieben, wie die Magie in die Welt von Earthdawn gelangt ist, wie die Theorie ihrer Wirkungsweise aussieht und wie Charaktere sie zu ihrem Vorteil einsetzen können.57


“Pfeile des Lichts” im Einsatz
(DSA)

Diese Vorbemerkung zum “Wesen der Zauberei” aus dem Rollenspiel “Earthdawn” bringt m.E. einige wesentliche Aspekte zum Ausdruck, welche die Verwendung von Magie und Zauberei im Fantasy-Rollenspiel auszeichnen. Zunächst einmal kommt kein mir bekanntes Rollenspiel ohne Magie aus, Magie ist ein geradezu typisches Element der Rollenspiele. Magie ist im Rollenspiel aber auch meist etwas “alltägliches”. Die meisten Fantasy-Spielsysteme sind sehr darum bemüht, “wissenschaftliche” Erklärungen für die Existenz und die Anwendung von Magie in der jeweiligen Spielwelt zu liefern. Magie ist – im Rahmen der Spielwelten – also keineswegs okkult, sondern “naturwissenschaftlich” erklärbarer Bestandteil der Spielwelten. Diese “wissenschaftlichen” Erklärungen sind natürlich stark an die Gesetzmäßigkeiten der Spielwelt gebunden, allein schon daher ist die Vorstellung, Spiel-Zaubersprüche könnten in unserer Realität ebenfalls Wirkung zeigen, bei psychisch gesunden Spielern praktisch auszuschließen. Cardwell58 weist darauf hin, daß Angriffe auf Rollenspiele vor allem zu Beginn der 80er Jahre das Argument verwendeten, Rollenspiele lehrten die

Beherrschung wilder Tiere (DSA)
Anwendung von (Spiel-)Magie in der realen Welt. Anhand eines Beispieles zeigt er, daß es sich in solchen Fällen meist um “humoristische” Übertragung von Spielmagie in die Realwelt handelt.59 Da die dahingehenden Vorwürfe sich auch nicht belegen ließen, wandte sich das Interesse der Rollenspiel-Gegner anderen Problemfeldern zu.

Die ernster zu nehmende Frage, ob die Verwendung von Magie im Spiel dazu animieren könnte, sich mit “irdischer” Magie und okkulten Praktiken einzulassen, ist mit dem vorliegenden Zahlenmaterial schwer zu beantworten60 und am ehesten bei “Dark Fantasy”-Spielen zu bejahen. Allerdings dürfte der Beitrag von Magie in Rollenspielen zur Bereitschaft, sich auf Okkultes einzulassen gering einzustufen sein – immerhin gaben auch in der Gruppe der NichtspielerInnen ca 10% an, an Okkultes zu glauben und 35% glauben “ein bißchen” an Okkultes. Die Bereitschaft, sich mit Okkultem zu beschäftigen, dürfte bei den Jugendlichen insgesamt hoch einzuschätzen sein – immerhin hat etwa ein Viertel aller Jugendlichen schon Erfahrung mit okkulten Praktiken.


5.3.2. Gott, Götter und Theologie im Rollenspiel

M.E. sind bei dieser Frage wieder die zwei Gruppen von Fantasy-Rollenspielen zu unterscheiden: Klassische Fantasyrollenspiele verwenden meist eine an die griechisch-römisch-germanische Mythologie angelehnte “Theologie”. Dazu kommen mitunter auch Elemente animistischer Religionsformen,61 insgesamt meist ein buntes Sammelsurium aus der Sicht des modernen Menschen musealer irdisch-mythologisch-religiöser Versatzstücke.


Götter (DSA)

Wenn Kritiker – in Bezug auf klassische Fantasy-Spiele – feststellen „Fantasy-Rollenspiele vertreten im allgemeinen ein Universum ohne einen ewigen Schöpfergott62 und folgern

„[...] daß die diesen Spielen zugrunde liegende Theologie eine offene Absage an Teile (oder das Gesamte) der biblischen Theologie darstellt.63

gehen sie zunächst einmal von der falschen Annahme aus, klassische Fantasy-Rollenspiele wollten überhaupt eine Theologie “vertreten”. Weldon/Bjornstad stellen folgerichtig auch sprachlich parallel “Fantasy-Rollenspiele vertreten...” einem “Die Bibel vertritt...64 gegenüber.

Soweit ich das Angebot an Fantasy-Rollenspielen überblicke, wollen diese jedoch keine Religion und keinen Glauben anbieten oder vertreten, und m.E. ist diese Frage für die Klassischen Fantasy-Rollenspiele mit ihrer “musealen” Theologie auch weitgehend unproblematisch. Die Verehrung der Kriegsgöttin “Rondra” aus dem Rollenspiel “Das Schwarze Auge” etwa ist schwerlich in unsere Realität übertragbar.


The Powerful Pale
Queen of Pain (Nephilim)

Anders ist dies andererseits gerade mit Rollenspielen, die in unserer Gegenwart oder näheren Zukunft angesiedelt sind. Rollenspiele wie “KULT” oder “Nephilim” sind in ihrer religiösen Dimension weitaus problematischer als Klassische Fantasy-Rollenspiele oder in ferner Zukunft angesiedelte Rollenspiele, weil sie tatsächlich in der Gegenwart existierende religiöse Vorstellungen verwenden. Nicht zufällig weisen sie präventiv den Verdacht der Verbreitung religiöser Inhalte von sich, so etwa die Autoren von KULT:

„Wir möchten an dieser Stelle erwähnen, daß es sich hier nicht um eine Aussage über unseren eigenen Glauben handelt. Noch ist dies ein Glaubensbekenntnis, das wir unseren Lesern zu vermitteln wünschen.65

Spiele wie “KULT” und “Nephilim” vermischen auch im religiösen Bereich bewußt Spielwelt und reale Welt:

„THE GAME NEPHILIM is played in our contemporary world, although its focus is upon the hidden reality beyond the veil – the world of the occult.66

Konsequenterweise entspricht auch die “Theologie” dieser Spiele diesem okkulten Weltbild, christliche und andere religiöse Vorstellungen werden aus okkulter Perspektive dargestellt. Als Beispiel die Beschreibung Gottes aus dem Rollenspiel “KULT”, welche eine Art “negative Heilsgeschichte” beinhaltet: Gott, genannt “der Demiurge”, hat die Menschen vor langer Zeit in das Gefängnis der irdischen Realität eingesperrt, damit sie die “wahre” Realität nicht erkennen können:

„Es weiß nicht einmal jemand genau, wer der Demiurge war und ist. Einige sagen, daß er die Welt erschaffen habe, zumindest unseren kleinen Teil davon. Er nannte sich selbst den Schöpfer. [...] Mit der Hilfe seiner Diener [...] ist es dem Demiurgen gelungen, uns in unserer Ignoranz zu halten. Aber die Zeiten ändern sich. Aus dieser Sichtweise heraus muß man die Geschichte ganz neu schreiben. Am Ende des 18. Jahrhunderts verlor der Demiurge die Kontrolle über unser Gefängnis. Sein sorgfältig entworfenes System der Mythen und des Glaubens wurde plötzlich angezweifelt. [...] Am Ende des 20. Jahrhunderts war der Zusammenbruch ein Faktum. Der Demiurge war verschwunden – ist geflohen oder gestorben. [...] Immer mehr Menschen bezweifelten, daß er überhaupt je existiert hatte.67

Hier werden ganz bewußt christliche und andere bestehende religiöse Vorstellungen okkultistisch abgewandelt verwendet. Auch die Person Jesu wird im Rollenspiel “Nephilim” unter der Überschrift: The Jesus Incident: Birth of the Piscean Age so umgedeutet:

„Nephilim say differently. They say that Jesus [...] was the first Nephilim to be embodied within the foetus of a human being, and was thus born incarnate. [...] The child had vast abilities in all known occult practises [...]. Paul [...] preached a garbled version of part of Jesus’ message, and thereby obscured the miracolous Nephilim events.68


Titelbild der dt. Ausgabe von
OK•KULT (KULT)

Zusammenfassend läßt sich zum Problemkreis Götter und Theologie feststellen:

Rollenspiele sind m.E. nicht okkultistisch, wenn sie fantastische Götterwelten beinhalten oder im Rahmen der Spielwelt erklärbare Magie verwenden, sondern wenn sie bewußt auf dem Hintergrund der real existierenden Welt okkultistische Weltbilder und “Theologien” aufbauen. Allerdings versuchen die betreffenden Spiele das ja keineswegs zu verschleiern, zumindest die von mir untersuchten Rollenspiele verwenden das Reizwort “okkult” sogar werbewirksam auf den Titelseiten.

Allerdings ist eines zu beachten: auch in “okkultistischen” Rollenspielen wird Okkultismus nur gespielt – einen “echten” Okkultismus vertreten auch sie nicht, die in ihnen enthaltenen okkultistischen Weltbilder und religiösen Vorstellungen werden von den Autoren weder geglaubt noch vertreten. Dennoch sind diese Rollenspiele theologisch, psychologisch und pädagogisch sicher wesentlich problematischer, da sie bewußt in der Grauzone zwischen Fiktion und Realität angesiedelt sind. Für Spielerinnen und Spieler dieser Spiele ist der Schritt zum realen Okkultismus wesentlich kleiner, der Umgang mit solchen Spielen, die überdies auch – wie die Bilder dieser Seite belegen – wesentlich gewaltträchtiger sind, setzt eine gefestigtere Persönlichkeit voraus.69

Ein kurzes Wort noch zu den sehr exotischen “pseudo-christlichen” Rollenspielen: Für diese gilt vieles, was über die “okkultistischen” Rollenspiele gesagt wurde, in ähnlicher Weise. Allerdings verwenden sie eine Art “innerchristlichen Vulgärokkultismus”, sie kommen ohne zusätzliche okkulte Welterklärungen aus. Ihr Weltbild ist “pseudochristlich-dualistisch”: Gott und Satan, Engelheere und Teuflische Heere liegen im Kampf um die Welt. Sie sind vermutlich weniger problematisch, da die Gefahr der Vermischung von Realität und Fiktion bei ihnen geringer ist. Die beiden mir vorliegenden Rollenspiele dieses Genres, “Angeli” und “Magna Veritas” arbeiten eher mit einer gewissen ironischen Distanz zu ihrer eigenen Spielwelt, und deren religiösen Inhalten wie etwa diese Erklärung zu “Angeli” zeigt:

„Im Mittelpunkt des Spiels stehen größtenteils übernatürliche Charaktere, die sich damit herumplagen, das Gesetz zu erfüllen oder sich möglichst geschickt darum zu drücken. Die Engelchen unter ihnen haben es dabei meist besonders schwer. Wir sind uns sicher, daß es den meisten als unmöglich erscheinen wird, einen Himmlischen darzustellen, weil die meisten Spieler auf dem Finstertripp [sic] sind. [...] Andererseits ist es aber auch möglich, [...] die ganz schlimmen Jungs zu mimen und mal so ein richtiges Teufelchen zu spielen...“

Zum Abschluß dieses Abschnitts über Götter und Theologie sei nun die wichtige Frage gestellt:

Was ist an der religiösen Dimension der Rollenspiele – seien es klassische Fantasy-Rollenspiele oder “Dark Fantasy”-Rollenspiele – offenbar für Jugendliche und junge Erwachsene so attraktiv, daß kein Rollenspiel ohne sie auskommt, daß tausende von Jugendlichen gerne bereit sind, sich über Götterpantheone kundig zu machen, an die niemand glaubt, auch nicht sie selbst, Mythen von Völkern kennenzulernen, die nie existiert haben und sich über die Religion ihrer Spielercharaktere mehr Gedanken zu machen als über ihre eigene?

Diese Frage wäre mit Sicherheit eine eigene umfassende Untersuchung wert, ich möchte hier nur einige Punkte anreißen, die ich für bedenkens- und der Weiteruntersuchung wert halte:


Menschenopfer
(Nephilim)


5.3.3. Dämonen im Rollenspiel
Die Bilder zu diesem Abschnitt zeigen Dämonendarstellungen aus verschiedenen Spielsystemen (DSA, angeli, Warhammer)

Auffällig ist in den letzten Jahren die zunehmende “Dämonisierung” bei den Rollenspielen. Im Blick ist dabei nicht so sehr die Vorstellung von Besessenheit durch Dämonen, sondern Dämonen sind eher die Verkörperung des dunklen Prinzips in der Welt und – ebenso wie die Götter – als Wesen aus anderen Sphären gedacht. Bei dieser Tendenz ziehen auch die schon länger auf dem Markt befindlichen Rollenspiele wie “Das Schwarze Auge” mit, die zu Beginn kaum “dämonische” Elemente enthielten. So ist etwa in der 1994 erschienenen Neuauflage der “Magiebox” des “Schwarzen Auges” eine komplette “Dämonologie” enthalten. Den 12 Gottheiten werden 12 Erzdämonen gegenübergestellt. Derzeit wird von den Autoren des “Schwarzen Auges” eine Abenteuerserie herausgebracht,71 die sich um die Rettung der Welt vor dem Eindringen der Dämonen unter der Anführerschaft eines immer wieder reinkarnierten Schwarzmagiers dreht. Das Eindringen der Dämonen in die Spielwelt ist ein auffallend beherrschendes Thema verschiedener Spielsysteme.72

Die Existenz und die Bezwingung dunkler, lebensbedrohender Mächte ist also ein wichtiges und zentrales Thema vieler Rollenspiele. Dämonen und dämonische Umtriebe berauben ganze Landstriche jeglichen Lebens,73 Dämonen verursachen Seuchen,74 Krankheiten und Wahnsinn, Dämonen stehen für zerstörerische Potenz schlechthin. Das Bedürfnis nach einer Auseinandersetzung mit solchen Mächten entsteht m.E. aus einer Realität, die nicht nur Jugendliche und junge Erwachsene zunehmend als bedrohlich empfinden:

In einer einerseits hochtechnisierten und entmythologisierten Welt, in einer Zeit, in der andererseits die Beherrschbarkeit der mit der Technik verbundenen Risiken immer fraglicher wird, die Gesellschaft insgesamt eine “Risikogesellschaft75 geworden ist, in der sich immer wieder apokalyptische Szenarien abzeichnen,76 findet hier möglicherweise eine mythologische Verarbeitung aus der realen Welt stammender Ängste und Probleme statt. Die realen Probleme und Bedrohungen werden als undurchsichtig, die eigene Rolle als ohnmächtige und ausgelieferte erlebt:

„Wir gewinnen immer mehr den Eindruck, daß die zunehmende Komplexität den Handelnden überfordert. Außerdem sieht die Bevölkerung die modernen Technologien vielfach nicht als Wohltat, sondern vornehmlich als Bedrohung und Risiko. Das hängt insbesondere damit zusammen, daß die moderne Welt insgesamt als undurchschaubar empfunden wird.77

Die dunklen Mächte und Gewalten, die Fantasy-Welten bedrohen, sind demgegenüber meist greifbar und bekämpfbar, Fantasy-Welten können oft sogar durch die Spielercharaktere selbst gerettet werden. Somit können im Spiel Ängste abgebaut und Ohnmachtsgefühle kompensiert werden. Dieser Gesichtspunkt wurde meines Wissens in der bisherigen Diskussion überhaupt noch nicht berücksichtigt. Ansätze, die Dämonen im Rollenspiel einfach als Teufelswerk oder als für Jugendliche schädlich verdammen, übersehen, daß Rollenspiel-Welten nicht im luftleeren Raum oder in der Okkultistenwerkstatt entstehen, sondern von hunderttausenden von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mitgestaltet werden und daher wesentlicher Ausdruck von deren Weltsicht sind. Vorschnelle Verurteilungen greifen unter diesem Aspekt mit Sicherheit zu kurz. Mit der vorschnellen Verwendung des Etiketts “okkult” werden wertvolle Gesprächschancen vertan.

Zusammenfassend läßt sich zum Kapitel “Rollenspiel und Okkultismus” feststellen, daß einerseits eine “satanic panic78 sicher unangebracht und kurzsichtig ist, andererseits aber vor allem “Dark Fantasy”-Rollenspiele durchaus okkultistisches Potential beinhalten.

Fantasy-Rollenspiele sind aber sicherlich ein ausgezeichneter Ansatzpunkt, um mit Jugendlichen über die hier angeschnittenen Themen ins Gespräch zu kommen, da sie für Jugendliche wichtige – auch religiöse – Probleme in mythologisierender Form spielerisch zur Sprache bringen.


5.4. Rollenspiele und psychische Veränderungen: Realitätsverlust

„Aussagen der jugendlichen Phantasie-Rollenspieler enthalten Hinweise auf einen deutlichen Realitätsverlust bzw. auf ein gestörtes Verhältnis zur Realität. [...] Die Annahme liegt nahe, daß durch lange und intensive phantasiemäßige Versenkung in fiktive Situationen und das Aufgehen in fiktiven Rollen bei bestimmten Jugendlichen derartige psychotische Deformierungen nach und nach ausgebildet werden.79

Ritter80 klassifiziert Fantasy-Rollenspiele als “wildes Psychodrama”.81 Diese Eigenschaft der Spiele bringt einige Probleme mit sich:

„These games expose immature youth to a form of psychodrama that can either exert positive or negative effects on their self-esteem or self-concept. There are many variables involved in these games that require maturity and a strong sense of self.82

Zwar haben statistische psychologische Untersuchungen bei College-Studenten keine psychischen Veränderungen durch häufiges Rollenspiel (Dungeons and Dragons) gezeigt,83 dennoch ist es angesichts spektakulärer Einzelfälle wohl „angebracht, daß insbesondere sensible und psychisch nicht stabile Jugendliche Vorsicht walten lassen“.84

Bisher bestehende Studien zeigen einerseits sogar eine mögliche Verwendung von Fantasy-Rollenspielen in der Psychotherapie85 andererseits die Probleme, die bei psychisch gehandicappten Personen durch die Spiele entstehen können.86

Vor allem bei jüngeren Jugendlichen und psychisch instabilen Personen, deren Identität (noch) schwach ausgeprägt ist, können Fantasy-Rollenspiele also unter Umständen psychische Veränderungen zumindest katalysieren. Ein Gesichtspunkt, der der besonderen Aufmerksamkeit bedarf, ist gerade in diesem Bereich sicher die Person des Spielleiters. Da er im Spiel über uneingeschränkte Macht verfügt, ist sein Umgang vor allem mit den problematischen Faktoren der Spiele von entscheidender Bedeutung für die aus dem Spiel potentiell entstehenden psychischen Risiken. Da die Spielgruppen vermutlich kaum auf solche Folgen des Spiels vorbereitet sind, und mit Sicherheit auch meist überfordert wären, darauf zu reagieren, ist hier besonders die Verantwortung von Eltern und Pädagogen gefordert, aber auch Rollenspieler sollten über diese möglichen Spielfolgen informiert und Hilfe angeboten werden.


Anmerkungen:

32 diese Zusammenstellung übernehme ich im Wesentlichen von Ziai, Aram: “Das Rollenspiel aus soziologischer Sicht – Auswirkungen und Gefahren”, Zwischenprüfungsarbeit am Institut für Soziologie, RWTH Aachen 1995, mir als Ms. vorliegend
33 nicht eingehen werde ich etwa auf den Rassismusvorwurf, weil mir dieser Punkt sehr nebensächlich zu sein scheint. Die seit Tolkien sprichwörtliche Erbfeindschaft zwischen Zwergen und Elfen scheint mir beispielsweise kein drängendes Problem.
34 “‘Dungeons and Dragons’ – ein gefährliches Unterhaltungsspiel”, in: Erwachet!, 22. Juni 1982, 26-27
35 siehe hierzu 5.3.2.
36 Ein Schurke läßt sich vielleicht bekehren, Dämonen dagegen nicht, denn sie sind nicht böse, sie sind das Böse
37 Cassada, J; Tower, A: “The Hierarchy In the Ranks of Death”, White Wolf, Clarkston, Georgia 1995, S. 19 (Ein Modul zum Rollenspiel “Wraith: The Oblivion”, das die Hierarchie der Unterwelt beschreibt; die Spieler spielen in diesem Spiel Tote)
38 Lamidey, F.; Shirley, S., u.a.: “Nephilim. Occult Roleplaying”, Chaosium Inc., Oakland 1994
39 ebd, S. 7
40 ebd.
41 Pulling, Pat: “Das Teufelsnetz: Sie wollen unsere Kinder. Und wenn wir uns nicht wehren, ist es zu spät”, Verlag der Francke Buchhandlung, Marburg 1990, S. 98
42 Glogauer, Werner: “Kriminalisierung von Kindern und Jugendlichen durch Medien”, Nomos Verlagsgesellschaft, 4. Auflage, Baden-Baden 1994, S.68
43 Aus einem Interview in der Allianz-Zeitschrift “Neues Leben”, Nr. 8, 38. Jahrgang, August 1993, S. 26
44 siehe dazu oben, Fußnote 36
45 etwa Simón, Armando: “Emotional Stability Pertaining to the Game of Dungeons & Dragons”, in: Psychology in the Schools, Vol. 24, October 1987, 329-332
46 etwa Glogauer, l.c., S. 68
47 Cardwell jr., Paul: “The Attacks on Role-Playing Games”, Skeptical Inquirer, Winter 1994, 161
48 l.c., S. 72
49 Jonsson, Gunilla; Petersén, Michael: “KULT Rollenspiel”, Truant Verlag, Mainz 1992, S. xiii
50 Kiesow, Ulrich; Kramer, Ina; Römer, Thomas: “Die Helden des Schwarzen Auges: Regelbuch II zum Basisspiel ‘Das Schwarze Auge’”, Schmidt Spiel & Freizeit, Eching 1992, S. 23
51 Jonsson/Petersén, l.c., S. 100
* Wobei es allerdings zuvor im Text heißt: „[...] manchmal ist es der Atmosphäre eines Spiels zuträglich, den Tod eines Gegners etwas ausführlicher zu beschreiben, womit ihnen [den Spielern] die Widerwärtigkeit gewalttätiger Konfrontationen verdeutlicht werden soll. Die folgenden Beschreibungen – bekannt aus Film und Fernsehen – können Ihnen eine Idee von der Art der Darstellung vermitteln, die Sie in diesen besonders blutigen Situationen effektvoll einsetzen können.“ – Anm. d. Red.
52 von den 17 RollenspielerInnen meiner Umfrage waren acht 15 Jahre oder jünger
53 Weldon, John; Bjornstad, James: “Fantasy – Das Spiel mit dem Feuer”, Schulte & Gerth, Asslar 1986, S. 68
54 Pulling, Pat, l.c., S. 100
55 Ziai, Aram, l.c., S.21
56 auf die im Kapitel “Weltbilder” bereits angesprochenen Probleme bei bestimmten Rollenspielen gehe ich im folgenden noch näher ein
57 o. Vf. od. H.g.: “Earthdawn”, FanPro, Erkrath 1994, S. 142
58 l.c., S. 5
59 für einen rollenspielenden Schüler ist es vermutlich etwa eine lustige Vorstellung, seinen Lehrer in eine Kröte verwandeln zu können
60 eine Umfrage von Flach/Rummel, l.c., S. 66, weist in ähnliche Richtung
61 einer besonderen Untersuchung bedarf die Rolle von Dämonen in Fantasy-Spielen, dazu mehr im nächsten Abschnitt
62 Weldon/Bjornstad, l.c., S. 28
63 ebd, S. 31
64 ebd, S. 28
65 Jonsson/Petersén, l.c., S. 8
66 Lamidey u.a., l.c., S. 184
67 Jonsson/Petersén, l.c., S. 152
68 Lamidey u.a., l.c., S. 65f
69 Die Regelwerke der KULT-Serie tragen den Vermerk “Für Personen unter 16 Jahren nicht geeignet”, nicht so aber beispielsweise die Regelbücher für “Nephilim”
70 allerdings mit dem zusätzlichen Problem, daß hier neue religiöse Gedankenwelten im Spiel ausprobiert werden können, auf deren realistisches Äquivalent im Unterschied zu klassischen Fantasy-“Religionen” ein “Umstieg” möglich ist
71 diese Abenteuerserie ist derzeit das beherrschende Thema der Spielwelt des “Schwarzen Auges” und wird in zahlreichen Publikationen (Abenteuerhefte, Artikel in Zeitschriften, Romane etc.) thematisiert
72 beispielsweise ist die Hintergrundwelt von “Earthdawn” zwar gerade von einer umfassenden Dämonenherrschaft befreit, aber viele Dämonen sind noch gegenwärtig und die Hauptgegner der Spieler; in der von Gott verlassenen Welt des Rollenspiels “KULT” dringen die Dämonen immer stärker aus der “wahren Realität” in die Welt ein
73 etwa im DSA-Abenteuer “Alptraum ohne Ende”
74 z.B. im DSA-Abenteuer “Das Jahr des Greifen”
75 Der Begriff stammt von Ulrich Beck
76 so zeichnete der Cartoonist des “profil” vom 6. April 1996 unter dem Titel “Apocalypse NOW!” die apokalyptischen Reiter Dürers auf BSE-geschädigten Rindern daherjagend, erwähnt sei auch die Katastrophe von Tschernobyl, AIDS etc.
77 Hans Mohr, Vorstandsmitglied der Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg in einem Interview in der Zeitschrift “Spektrum der Wissenschaft”, 5/1996
78 Cardwell, l.c., S. 161
79 Glogauer, l.c., S. 66
80 Ritter, Hermann: “Struktur und Funktion von Fantasy-Rollenspielen bei Jugendlichen – neue Formen der Gruppenarbeit?” Diplomarbeit Sozialarbeit, FH Darmstadt 1988
81 ebd., S. 54
82 Thompson, Linda: “Parental and Young Adolescents’ Views on Fantasy-Role-Playing Games (FRPG’s)”, in: Journal of Child and Youth Care, Vol. 4, Nr. 2, S. 55
83 Carroll, J.L.; Carolin, P.M.: “Relationship between Game Playing and Personality”, in: Psychological Reports, 1989, 64, S. 705-706
84 F.-W. Haack, Sektenbeauftragter der Ev-Luth. Kirche in Bayern, in: Pulling, l.c., S. 11
85 Zayas, L.H.; Lewis, B.H.: “Fantasy Role-Playing for Mutual Aid in Children’s Groups: A Case Illustration”, in: Social Work with Groups, Vol. 9 (1), Spring 1986, 53-66
86 Ascherman, L.I.: “The Impact of Unstructured Games of Fantasy and Role Playing on an Inpatient Unit for Adolescents”, in: International Journal of Group Psychotherapy, Vol. 43 (3), July 1993, 335-344



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